wenn
man von meinem 2010er Rätsel mal absieht, habe ich Euch vor
zweieinhalb Jahren zum letzten Mal von meinem Leben in Italien
berichtet. Eigentlich wollte ich es damals dabei belassen. Es gab
dafür verschiedene Gründe. Heute werde ich mich über diesen
Entschluss hinwegsetzen. Es hat sich in den letzten Wochen ein
bisschen Stoff angesammelt, den ich interessant genug finde, um Euch
davon zu berichten.
Cento
Aber
dazu später. Zuerst einmal kommt nach lediglich 19,5 Monaten die
Auflösung des Rätsels. Die Stadt, die von einem berühmten
Durchreisenden beschrieben worden war, ist natürlich Cento. Und der
berühmte Durchreisende war natürlich niemand anderes als Johann
Wolfgang von Goethe, der auf seiner „Italienischen Reise“ im
Oktober 1786 in Cento Station gemacht hatte. Die 100 Sympathiepunkte
für die schnellste Lösung gingen nach Amerika.
Goethes Worte über Cento findet man auf dieser Tafel unter den Arkaden zwischen Piazza und Pinacoteca |
Da
wohl nicht jeder Cento kennt, werde ich Euch diese emilianische
Kleinstadt nun vorstellen. Die Gemeinde Cento, die auch einige
umliegende Dörfer umfasst, hat etwa 35.000 Einwohner und liegt
ziemlich genau in der Mitte der Großstädte Bologna, Ferrara und
Modena. Obwohl Cento zur Provinz Ferrara gehört, hat Cento die
Telefonvorwahl von Bologna und liegt mit etwa 30km Entfernung auch
näher an Bologna als an Ferrara. Wie in Italien üblich, spielen
lokale Unterschiede eine wichtige Rolle: die Centesen fühlen sich,
trotz der Zugehörigkeit zu Ferrara, eher bolognesisch und auch die
lokale Mundart ist bolognesisch gefärbt.
Die
Hin- und Hergerissenheit ist, wie sollte es anders sein, historisch
bedingt. Cento war anfangs dem Bischof von Bologna und damit dem
Kirchenstaat Untertan, bis Papst Alexander VI. (Rodrigo Borgia,
verkörpert von Jeremy Irons in der US-Fernsehserie „Die Borgia“)
1502 Cento dem Herzog von Ferrara als Geschenk zur Hochzeit mit
Alexanders Tochter Lucrezia Borgia überließ. Nach Alexanders Tod
setzte ein mehrmaliges Hin und Her ein, bis Cento schließlich, mit
dem gesamtem Herzogtum Ferrara, 1598 zum Kirchenstaat zurückkehrte.
Das Herzogtum Ferrara verlor im Laufe des 16. Jahrhundert an Macht,
ein schweres Erdbeben im Jahr 1570 hatte daran einen nicht
unerheblichen Anteil.
Berühmtester
Centese ist Giovanni Francesco Barbieri, genannt Guercino
(der Schielende), bedeutender Maler des 17. Jahrhunderts. Ihm sind in
der Stadt die zentrale piazza
Guercino
mit Denkmal und die Hauptstraße corso
Guercino
gewidmet. Die lokale pinacoteca
beherbergt viele seiner Werke. Auch viele Vereine und
Gewerbetreibende schmücken sich mit seinem Spitznamen. Witzigerweise
nennt sich sogar ein Brillenladen hier Ottica
Guercino...
Cento
ist innerhalb Italiens durchaus auch überregional für seinen
Karnival bekannt, der jedes Jahr an fünf Sonntagen im Februar und
März mit Umzügen in der Altstadt gefeiert wird, wenn die Natur dem
keine Hindernisse in den Weg legt. So fielen dieses Jahr die ersten
beiden Karnevalssonntage aus, da es mehrfache ungewöhnlich heftige
Schneefälle gab, die ein sicheres Durchführen der Umzüge und eine
sichere Anreise der Teilnehmer und Gäste unmöglich machten.
Bemerkenswert
ist in Cento weiterhin ein (in dieser Gegend verbreitetes)
tausendjähriges System der landwirtschaftlichen Nutzung, das bis
heute besteht. Nach der Urbarmachung der sumpfigen Gebiete um Cento
(im centesischen Wappen zeugt heute noch ein Flusskrebs von dieser
Vergangenheit) wurde ein Rotationsprinzip eingeführt, bei dem das
Land alle zwanzig Jahre unter den städtischen Urfamilien neu
verteilt wird.
Wirtschaftlich
bedeutsam ist in Cento aber auch die Industrie. Aus Cento stammt
Ferruccio Lamborghini, der hier in Cento ein bedeutendes
Traktorunternehmen gegründet hatte. Weltweit bekannt wurde der
Unternehmer aber erst, als er nach einem Disput mit Enzo Ferrari, in
Sant'Agata Bolognese, nicht weit von Cento entfernt, eine
Sportwagenfirma erschuf.
Nachfolgend
noch ein paar Bilder aus Cento, die ich im Mai 2011 gemacht habe.
Piazza
Guercino
– das Zentrum von Cento
|
Corso
Guercino
– die Hauptstraße von Cento
|
Am
Corso
liegt auch Casa
Pannini
aus dem 15. Jahrhundert - und gleich nebenan mein Wohnhaus (an dessen
Seite sieht man oben mein Küchenfenster)
|
Erdbeben
Vielleicht
sollte ich zum besseren Verständnis etwas weiter ausholen. Das weite
Teile Italiens erdbebengefährdet sind, ist seit langem bekannt und
es kommt auch immer wieder zu heftigeren Erdbeben, die viele Opfer
und hohe Schäden anrichten. Die letzten verheerenden Erdbeben gab es
1976 im Friaul (nordöstlich von Venedig, nicht weit von Kärnten und
Slowenien) mit fast 1.000 Toten, 1980 in Irpinia (östlich von
Neapel) mit fast 3.000 Toten und 2009 im Abbruzzo (östlich von Rom)
mit über 300 Toten. Dazwischen gab es immer wieder kleinere
Erdbeben, bei denen die Opferzahl „nur“ zweistellig war. So wie
jetzt hier in der Emilia.
Bis
vor einigen Jahren galt die Poebene und damit auch die Emilia als
nicht gefährdet. Dass Erdbeben vorkommen können, ist, ist eine
relativ junge Erkenntnis, die im Großen und Ganzen nur unter
Experten verbreitet war. Hinzu kommt, dass das Risiko als sehr gering
eingestuft worden ist. Und selbst das schwere Erdbeben, dass 1570
Ferrara heimgesucht hatte, ist fast komplett in Vergessenheit
geraten. Bezeichnenderweise existierte bis vor einigen Tagen in der
italienischen Wikipedia kein Artikel dazu. Lediglich in der
englischen Wikipedia gibt es dazu einen ausführlichen Artikel,
anscheinend haben im englischen Sprachraum einige Leute die
historischen Quellen besser ausgewertet als hier in Italien. Die
Geschichtswissenschaft ist offenbar doch nicht so nutzlos, wie viele
Menschen denken und hätte in dem Fall vielleicht ein paar Leben
retten können, wenn man das Risiko besser eingeschätzt hätte.
Sonntag,
17. Juli 2011
Das
erste Erdbeben meines Lebens habe ich an jenem Sonntag abends um halb
neun erlebt. Es hatte eine Stärke von 4,7 auf der Richterskala. Das
Epizentrum war etwa 30km nördlich von Cento direkt unter dem Fluss
Po.
Ein
ziemlich komisches Gefühl. Zu dem Zeitpunkt war ich in meiner
Wohnung im 4. Stock. Natürlich spürt man die Erdstöße umso
stärker, je höher man sich befindet. Es war ein Vibrieren, ein
leichtes Zittern, dass einige Sekunden anhielt. Besonders erschrocken
war ich nicht, eher fasziniert. Es war ja nicht besonders stark und
ich dachte ja, dass ich in einem ungefährdeten Gebiet wohnen würde.
Merkwürdig fand ich allerdings, dass sich das Epizentrum mitten in
der Poebene befand. Ich war eher davon ausgegangen, dass man hier in
Cento höchstens die entfernten Auswirkungen eines Erdbebens in den
Bergen des Apennin spüren könnte.
Sonntag,
20. Mai 2012, 1:13 Uhr
Fast
ein Jahr später zitterte wieder das Haus. Bereits nach ca. einer
Viertelstunde war die Internetseite des zuständiges italienischen
Instituts aktualisiert (http://cnt.rm.ingv.it/)
und gab alle Daten bekannt: Stärke 4,1, Epizentrum in ca. 15km
Entfernung in Finale Emilia, einer Nachbargemeinde nördlich von
Cento. Naja, anschließend scherzte ich noch mit einer Freundin aus
der Nähe von Cento, ob wir jetzt regelmäßig alle paar Monate kurz
von so einem „Erdbeben“ getroffen werden würden. Kurz gelacht
und ab ins Bett.
Sonntag,
20. Mai 2012, 4:03 Uhr
Etwa
eineinhalb Stunden später wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Ein
enormer Lärm. Jetzt war es kein leichtes Zittern mehr: das ganze
Haus wackelte und machte dabei angsteinflößende Geräusche. Es war,
als ob ein ICE durch mein Schlafzimmer fuhr. Dass es sich um ein
Erdbeben handelte, ein starkes noch dazu, war mir sofort klar. Was
ich tun sollte hingegen nicht. Ich saß wie paralysiert auf meinem
sich hin und her bewegenden Bett und wartete, dass es aufhörte. Nach
zwanzig sehr langen Sekunden war es vorbei. Jetzt hörte man nur noch
zig Alarmanlagen von Autos und Geschäften, aber nach und nach gingen
die auch aus. Ich stand auf, machte das Licht an, sah in der Küche
einen Topf, der nicht mehr auf dem Herd stand, sondern auf dem
Fußboden lag und in der Dusche die Shampoos, die heruntergefallen
waren.
Nichts
dramatisches also. Das Erdbeben schien zwar heftig gewesen zu sein,
aber da ich ja in einer ungefährdeten Zone war, meinte ich, dass es
in Wirklichkeit nicht so stark gewesen sein kann. Erst später
begriff ich die Ausmaße: Stärke 6,0 auf der Richterskala. Also
Licht aus und weiter schlafen, ich hatte schließlich später eine
Verabredung zum Mittagessen und wollte dann ausgeschlafen haben. Aber
es ging weiter: 4:06 Uhr ein Erdbeben der Stärke 4,8. Eine Minute
später 5,1. Um 4:11 Uhr und um 4:12 Uhr jeweils 4,3. Im Hausflur
hörte ich die Nachbarn rumoren und machte auch meine Wohnungstür
auf. Wir beschlossen schließlich, zur Sicherheit erst einmal das
Haus zu verlassen. Wir wussten ja nicht, wie es weiter ging. Schnell
zog ich ein paar Sachen über und schnappte mir die wichtigsten
Dinge: Portemonnaie, Handy, Wohnungs- und Autoschlüssel, Zigaretten
und Feuerzeug. Normalerweise hält bei meinem Gelegenheitsrauchen
eine Packung im Schnitt einen Monat vor. An diesem Sonntag rauchte
ich eine gerade angefangene Packung in wenigen Stunden fast leer...
Cento war mit dem Schrecken davongekommen. Lediglich einige Ziegelsteine, wie hier neben meinem Hauseingang, oder Deckenverkleidungen, wie neben Goethes Tafel, waren heruntergefallen. |
Bis
nach 11 Uhr war ich mit meinen Nachbarn draußen. Dort war bereits
das volle Leben. Und innerhalb kürzester Zeit waren alle Kräfte im
Einsatz: Feuerwehr, Polizei, Carabinieri
und der Zivilschutz. Über das Handy konnte ich nun die ersten
Meldungen im Internet lesen, wo von Einstürzen und Toten berichtet
worden ist. Gegen 8 Uhr fuhr ich mit dem Auto einige Straßen in der
näheren Umgebung ab und sah es nun mit eigenen Augen. Dieses
Erdbeben war heftig. Die Wohnhäuser hatten den Stößen zwar
weitgehend standgehalten, aber ich sah nun in nur wenigen Kilometern
von Cento zerstörte Fabrikhallen, Kirchen und schließlich das
Rathaus von Sant'Agostino, keine 10km von Cento.
Nachdem
ich mich nach 11 Uhr wieder in die Wohnung getraut hatte, versuchte
ich anschließend etwas zu schlafen, die Verabredung zum Mittag hatte
sich erledigt. Nach einigen Telefonaten schlief ich wohl so gegen 13
Uhr ein. Die vielen leichten Stöße, die den ganzen Tag über
anhielten, nahm ich höchstens am Rande wahr. Aber um 15:18 Uhr wurde
es wieder heftiger: 5,1, wieder hellwach und wieder runter auf die
Straße. Nach einige Stunden und Zigaretten ging es wieder zurück in
die Häuser. Es war ja nichts passiert. Um 19:37 Uhr gab mir ein Stoß
von 4,5 den Rest. Diese Nacht würde ich nicht ruhig schlafen können.
Ich packte einige Sachen, fuhr mit dem Auto zum Firmenparkplatz und
habe die Nacht dann im Auto verbracht.
Die
folgenden Tage hielten die Nachbeben zwar an, aber, wie alle anderen,
lernte ich, damit zu leben und schon die Nacht von Montag auf
Dienstag verbrachte ich in meinem Bett im vierten Stockwerk.
Praktisch täglich wackelte es einige Male, aber was sollte schon
sein. Das Haus hatte gehalten, es hatte nicht die geringsten Schäden
davon getragen.
Dienstag,
29. Mai 2012, 9:00 Uhr
An
diesem Morgen saß ich Büro und telefonierte gerade mit meinem Chef.
Es fing ganz leicht an, wie eines dieser unzähligen Nachbeben.
Mitten im Gespräch hielt ich inne und sagte nur „Oh
Cazzo!“
(Oh Scheiße!). Die Antwort vom anderen Ende der Leitung kam prompt:
„Erdbeben!“ - „Ja, und jetzt wird es heftig!“ Ich versuchte,
aus dem Büro zu fliehen, dazu musste ich durch unseren Showroom, wo
jedoch bereits einige Ausstellungstücke hin und her schwankten, sich
Teile der Deckenverkleidung lösten und sogar einige Ziegelsteine
hinab fielen. Also blieb ich erst einmal im Büro, schaute nur nach
oben und zu den Schränken, um ausweichen zu können. Es löste sich
noch ein Panel aus der Trennwand und fiel auf einen der
Schreibtische. Dann war Ruhe. Nun hörte man nur noch
Schreckensschreie aus den Nachbarbüros. Ich konnte endlich raus und
draußen versicherten wir uns gegenseitig, dass alles okay war. Eine
der Lagerhallen in unserem kleinen Gewerbegebiet hatte
zentimetertiefe Risse und gilt seitdem als einsturzgefährdet. Ein
weiteres Beben könnte ihr den Rest geben.
Es sieht schlimmer aus, als es ist: unser Büro nach dem Erdbeben. |
Aus
dem Büro evakuierten wir dann einige technische Gerätschaften und
inspizierten die Wände, die nur wenige oberflächliche Risse
aufwiesen.
Im
Büro dabei hatte ich meine Sporttasche mit Schwimmsachen, da ich in
der Mittagspause schwimmen gehen wollte. Die Schwimmsachen packte ich
nun in mein Auto, das ich immer am Büro parke. Mit der leeren
Sporttasche fuhr ich zurück zu meiner Wohnung. Ich wollte einige
Sachen packen und dann verschwinden. T. aus Savona bot mir an, einige
Tage zu ihm zu kommen, bis sich die Lage beruhigen würde.
Schon
für die Fahrt zurück mit dem Fahrrad musste ich Umwege in Kauf
nehmen, da bereits einige Straßen gesperrt wurden. An meiner Straße
angekommen, sah ich, dass jetzt auch meine Straße dazu gehörte. Der
Zivilschutz hatte in der Zwischenzeit die komplette Altstadt
evakuiert und ließ keinen mehr rein. Zuerst bestanden die
Absperrungen nur aus rot-weißen Bändern, gegen 14 Uhr wurden
schließlich Zäune aufgestellt.
Ich
fuhr schließlich mit dem Fahrrad zurück zum Büro. Nach Rücksprache
mit meinem Chef schnappte ich den Firmenlaptop, einige Unterlagen,
ließ das Fahrrad dort und setzte sich mit ins Auto. Ziel war Savona.
In 300km Entfernung war ich vor Erdstößen sicher. Am Abend in
Savona angekommen, ging ich noch in ein Einkaufszentrum und kaufte
mir Zahnbürste und ein paar Wechselklamotten. Ich war praktisch
vorübergehend obdachlos. Am Mittwoch hatte ich bei T. mein
provisorisches Büro eingerichtet und war einsatzbereit.
Samstag,
2. Juni 2012
Nach
vier Tagen fuhr ich wieder nach Cento zurück. Meine Nachbarn
bestätigten mir telefonisch die Angaben von der offiziellen
Internetseite Centos, dass unser Teil des Corso
wieder zugänglich war und die gesperrte Zone verkleinert wurde.
Fachleute hatten unser Wohnhaus und die Wohnungen meiner Nachbarn
begutachtet und das Haus für sicher erklärt. Das Haus hätte bisher
den Stößen standgehalten, die Struktur sei intakt und das Haus
würde auch weitere Stöße verkraften. Die Risse hier und da seien
nur oberflächlich und eher ein ästhetisches Problem. Nach den
Beschreibungen über das Chaos, das meine Nachbarn in ihren Wohnungen
vorfanden, war ich auf das Schlimmste gefasst. Vor meinem inneren
Auge sah ich umgestürzte Kleiderschränke, zerstörtes Geschirr und
vieles mehr. So schlimm war es aber nicht, als ich die Wohnungstür
öffnete.
Es
hätte schlimmer kommen können. Was man auf dem Foto schlecht
erkennt, ist, dass die ganze Küchenzeile um ca. drei cm von der Wand
absteht. Außer dem Fernseher habe ich keine weiteren Schäden zu
beklagen.
Gerüchte
und Verschwörungstheorien
Erschreckend
an solchen Ereignissen ist, wie schnell in der Stadt Gerüchte die
Runde machen. Nach dem zweiten Beben berichteten mir meine Nachbarn
von drei Toten allein in Cento (das einzige Opfer starb erst eine
Woche später), vom eingestürzten Theater (an dem ich zwei Minuten
vorher mit dem Fahrrad vorbeigefahren war) und von der eingestürzten
Schwimmhalle (die ich einige Minuten später ebenfalls von außen
intakt vorfand).
Außerdem
sind nicht wenige Menschen hier überzeugt, dass das Erdbeben viel
stärker als angegeben war. Grundlage für diese Überzeugung ist ein
Gesetz, nachdem der italienische Staat Erdbebenschäden komplett
ersetzen muss, die bei Erdstößen einer Stärke von mindestens 6,0
auftreten. Das erste Erdbeben vom 20. Mai wurde anfangs auch erst mit
5,9 angegeben und erst nach neueren Berechnungen später auf 6,0
korrigiert. Das zweite Erdbeben haben alle in Cento als stärker
empfunden, obwohl es nach den Angaben theoretisch schwächer war
(Stärke 5,8 statt 6,0; Epizentrum einige km weiter entfernt;
Hypozentrum in größerer Tiefe: 10 statt 6km; Dauer nur 10 Sekunden
statt 20). Tatsächlich aber hat Cento im zweiten Erdbeben starke
Schäden erlitten und im ersten nicht. Mein Fernseher hatte das erste
Beben überstanden.
Daher
gehen viele Menschen hier davon aus, dass die Regierung lügt, um
sich aus der Verantwortung zu stehlen. Allerdings müsste der Arm der
italienischen Regierung schon sehr weit reichen. Auch die deutschen
(GFZ Potsdam!) und amerikanischen Institute bestätigen die 5,8 des
zweiten Bebens. Der Unterschied liegt in der Charakteristik des
Bebens. Das erste Beben hatte nur vertikale Stöße zur Folge, das
zweite allerdings sowohl vertikale Stöße als auch horizontale
Bewegungen. Die Verschwörungstheoriker werden aber nicht allein
damit widerlegt, sondern durch ihre eigene Maßlosigkeit. Sie meinen,
das zweite Beben hätte eine Stärke von 7,3 gehabt. Dann stünde in
der weitgehend unvorbereiteten Emilia aber wahrscheinlich kein Stein
mehr auf dem anderen.
Folgen
Die
Folgen der Beben werden die Region auf Jahre begleiten. In allen von
den betroffenen Gebieten gibt es Zeltstädte, weil viele Wohnhäuser
als unsicher eingestuft worden sind oder vom Einsturz anderer Gebäude
bedroht sind. Ungefähr 15.000 Menschen sind obdachlos. Von einem
Moment auf den anderen. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie ein
wenige Sekunden langer Moment das Leben eines ganzen Landstrichs auf
den Kopf stellt.
In
Cento selbst sind noch immer weite Teile der Innenstadt gesperrt.
Mein Arbeitsweg mit dem Fahrrad hat sich verlängert und besteht aus
einem Slalom zwischen den Absperrungen. Hinweisschilder bitten um das
langsame Befahren (!) der Arkadengänge, verbieten es aber nicht. Die
Gemeindeverwaltung wurde ausgelagert, die Piazza
ist nur durch einen schmalen Korridor passierbar. Die Schäden sind
erheblich und Cento liegt nur am Rand des betroffenen Gebietes.
Ausgerechnet während der Krise verschärft sich noch die
wirtschaftliche Lage.
Die
Piazza
Guercino
mit dem Palazzo
del governo
– zwei der Zinnen sind beim Erdbeben abgestürzt, die anderen
wurden abgebaut und stehen nummeriert vor dem Gebäude.
|
Die
Pinacoteca,
in der sich viele Werke des Guercino
befinden, ist teilweise einsturzgefährdet, die Werke wurden in
Sicherheit gebracht. Einige Risse sind auch von außen zu sehen.
|
Wirtschaft
Während
das erste Beben in der Nacht zugeschlagen hatte, schien das zweite
Erdbeben genau auf den Beginn des Arbeitstages zu warten. Und damit
hatte das zweite Beben deutlich mehr Opfer gefordert als das erste
(20 statt 7). Aber nicht nur viele Menschen fielen den einstürzenden
Fabrikhallen zum Opfer. Für viele Unternehmen bedeutet das Beben den
Ruin. Und damit werden in der Gegend viele Arbeitsplätze wegfallen.
Andere Unternehmen erwägen ernsthaft, ihre Standorte anderswo neu
aufzubauen. Und wenn man schon dabei ist, warum nicht gleich im
Ausland...
Der
Staat ist in dieser Situation, wie so oft, keine große Hilfe. Zwar
stellt er Gelder zur Verfügung, um mit der Notfallsituation umgehen
zu können, er setzt auch einige Steuern aus (ich werde die nächsten
Monate etwas mehr netto vom brutto haben), er gibt sich etwas
großzügiger bei Sozialleistungen und wird wohl den Wiederaufbau
finanzieren. Aber auf der anderen Seite wurde beispielsweise ein
Dekret erlassen, dass den Unternehmen mit sofortiger Wirkung die
alleinige Verantwortung für die Erdbebensicherheit der Gebäude
überträgt. Was bis gestern baugenehmigt war, ist jetzt nicht mehr
gültig. Sollte wieder etwas passieren, ist der
Sicherheitsbeauftragte der Firmen straf- und zivilrechtlich
verantwortlich für die Sicherheit der Mitarbeiter. Er kann
allerdings einen Erdbebenexperten zu Rate ziehen, der selbst die
strafrechtliche Verantwortung übernimmt und die Sicherheit der alten
Gebäude nach den neuen Normen zertifiziert. Und den wird er nicht
finden. Da die Regierung auch keine Übergangsfrist vorsieht, stehen
damit viele Sicherheitsbeauftragte, die meist auch nur Angestellte
sind, mit einem Bein im Knast. Wie gehen sie damit um? Sie ignorieren
kurzfristig das Risiko und lassen die Firma weiterarbeiten. Oder sie
zwingen die Angestellten dazu, auf eigenes Risiko weiterzuarbeiten
und lassen sich das unterschreiben. Dann laufen aber die
Gewerkschaften Sturm. Oder sie lassen die Firma zusperren und machen
damit sich selbst und die Mitarbeiter arbeitslos.
Mein
Nachbar beispielsweise arbeitet für eine Modekette, deren Filiale in
Cento seit dem zweiten Beben geschlossen ist. Die Firmenzentrale
weigert sich, das Risiko einzugehen und versetzt ihn jetzt erst
einmal vorläufig in eine andere Stadt (ca. 300km südöstlich).
Ausgedacht
hat sich diese einseitige Verantwortungszuweisung der Präsident des
Zivilschutzes. Dazu sagte er, dass er wüsste, was er machen würde,
wenn er zwischen der Rettung von Menschenleben und der Rettung des
Spread (des Abstandes zwischen deutschen und italienischen Zinsen der
Staatsverschuldung) wählen würde. Ich finde, er macht es sich damit
etwas zu einfach.
Sollte
mir also bei einem weiteren Beben etwas passieren, dann ist mein Chef
dran. Das wissen wir beide und hoffen, dass es nicht dazu kommen
wird. Alternativ, wenn ihm das Risiko zu hoch ist, könnte er unser
Büro schließen. Habe ich daran ein Interesse?
Der
Corso,
wo ich wohne, ist derzeit für den Autoverkehr komplett, für alle
anderen teilweise gesperrt, am Beginn der Straße machen die
Geschäfte auf sich aufmerksam, die offen sind.
|
Trostlos
ist momentan auch die Situation für die Ladeninhaber in der
Altstadt. Meine Straße hat durch die Absperrungen in der Innenstadt
ihre Rolle als Stadtzentrum verloren. Selbst für Fußgänger und
Radfahrer ist der Corso
teilweise eine Sackgasse. Die Umsätze gehen dramatisch zurück, der
wöchentliche Markt findet seit einiger Zeit nicht mehr statt und
wird umziehen. Viele Läden sind geschlossen und damit verschärft
sich die Situation für die anderen noch mehr. Auch der fehlende
Autoverkehr kostet Umsatz und viele Menschen trauen sich aus Angst
sowieso nicht mehr in die Altstadt.
Die
für die lokale Wirtschaft so wichtigen Feste wurden erst einmal
gestrichen. Der Settembre
centese, ein
wochenlanges Volksfest, wird nicht stattfinden. Ob nächstes Jahr der
Karneval gefeiert werden kann, der Gäste von weither anlockte, ist
derzeit eher unwahrscheinlich.
Nachbeben
Wahrscheinlich
kann man es sich nicht vorstellen, was es vor Ort bedeutet, wenn man
in den Medien von Nachbeben erfährt. Dazu gebe ich Euch mal folgende
Grafiken des INGV, dem italienischen Institut, das Erdbeben
analysiert.
Zusammengefasst
gab es bis gestern Nachmittag bisher 7 Beben stärker al 5,0, 27
Beben zwischen 4,0 und 5,0 und 177 Beben zwischen 3,0 und 4,0. Und es
geht munter weiter. Manche Erdbeben spürt man förmlich ankommen. Es
gibt so ein leichtes Dröhnen, das der Bebenwelle vorauseilt. Dann
kann man sich daraus einstellen, das es in 2-3 Sekunden wieder kurz
wacklig wird. Kurz innegehalten und wieder ist der Ruck überstanden.
Daraus entwickelt sich bei vielen Menschen, mich eingeschlossen,
schon eine Paranoia. Man spürt Stöße, die nicht da sind, neulich
bin ich zusammengefahren, als jemand sein Motorrad angelassen hat.
Selbst die paar Tage, die ich im vollkommen ruhigen Savona war,
meinte ich einige Stöße vernommen zu haben.
Das
Erdbeben von 1570, das jetzt so eifrig analysiert wird, ähnelt in
seiner Charakteristik übrigens stark den aktuellen Vorgängen. Auch
damals war es nicht ein Beben, sondern eine Erdbebenserie. Sie hielt
vier Jahre lang an. Das Gröbste war damals aber schon nach sechs
Monaten überstanden.
Wir
haben schon mal einen Monat hinter uns.
Saluti