domenica 17 giugno 2012

scosse

Cari amici,
 
wenn man von meinem 2010er Rätsel mal absieht, habe ich Euch vor zweieinhalb Jahren zum letzten Mal von meinem Leben in Italien berichtet. Eigentlich wollte ich es damals dabei belassen. Es gab dafür verschiedene Gründe. Heute werde ich mich über diesen Entschluss hinwegsetzen. Es hat sich in den letzten Wochen ein bisschen Stoff angesammelt, den ich interessant genug finde, um Euch davon zu berichten.

Cento

Aber dazu später. Zuerst einmal kommt nach lediglich 19,5 Monaten die Auflösung des Rätsels. Die Stadt, die von einem berühmten Durchreisenden beschrieben worden war, ist natürlich Cento. Und der berühmte Durchreisende war natürlich niemand anderes als Johann Wolfgang von Goethe, der auf seiner „Italienischen Reise“ im Oktober 1786 in Cento Station gemacht hatte. Die 100 Sympathiepunkte für die schnellste Lösung gingen nach Amerika.


Goethes Worte über Cento findet man auf dieser Tafel unter den Arkaden zwischen Piazza und Pinacoteca
Da wohl nicht jeder Cento kennt, werde ich Euch diese emilianische Kleinstadt nun vorstellen. Die Gemeinde Cento, die auch einige umliegende Dörfer umfasst, hat etwa 35.000 Einwohner und liegt ziemlich genau in der Mitte der Großstädte Bologna, Ferrara und Modena. Obwohl Cento zur Provinz Ferrara gehört, hat Cento die Telefonvorwahl von Bologna und liegt mit etwa 30km Entfernung auch näher an Bologna als an Ferrara. Wie in Italien üblich, spielen lokale Unterschiede eine wichtige Rolle: die Centesen fühlen sich, trotz der Zugehörigkeit zu Ferrara, eher bolognesisch und auch die lokale Mundart ist bolognesisch gefärbt.
Die Hin- und Hergerissenheit ist, wie sollte es anders sein, historisch bedingt. Cento war anfangs dem Bischof von Bologna und damit dem Kirchenstaat Untertan, bis Papst Alexander VI. (Rodrigo Borgia, verkörpert von Jeremy Irons in der US-Fernsehserie „Die Borgia“) 1502 Cento dem Herzog von Ferrara als Geschenk zur Hochzeit mit Alexanders Tochter Lucrezia Borgia überließ. Nach Alexanders Tod setzte ein mehrmaliges Hin und Her ein, bis Cento schließlich, mit dem gesamtem Herzogtum Ferrara, 1598 zum Kirchenstaat zurückkehrte. Das Herzogtum Ferrara verlor im Laufe des 16. Jahrhundert an Macht, ein schweres Erdbeben im Jahr 1570 hatte daran einen nicht unerheblichen Anteil.
Berühmtester Centese ist Giovanni Francesco Barbieri, genannt Guercino (der Schielende), bedeutender Maler des 17. Jahrhunderts. Ihm sind in der Stadt die zentrale piazza Guercino mit Denkmal und die Hauptstraße corso Guercino gewidmet. Die lokale pinacoteca beherbergt viele seiner Werke. Auch viele Vereine und Gewerbetreibende schmücken sich mit seinem Spitznamen. Witzigerweise nennt sich sogar ein Brillenladen hier Ottica Guercino...
Cento ist innerhalb Italiens durchaus auch überregional für seinen Karnival bekannt, der jedes Jahr an fünf Sonntagen im Februar und März mit Umzügen in der Altstadt gefeiert wird, wenn die Natur dem keine Hindernisse in den Weg legt. So fielen dieses Jahr die ersten beiden Karnevalssonntage aus, da es mehrfache ungewöhnlich heftige Schneefälle gab, die ein sicheres Durchführen der Umzüge und eine sichere Anreise der Teilnehmer und Gäste unmöglich machten.


Die winterliche Rocca (Festung) von Cento. Einige Stunden später war der Schnee auf über einen halben Meter aufgetürmt . Anhaltende starke Schneefälle sorgten dafür, dass dieser Zustand fast zwei Wochen bestand.
Bemerkenswert ist in Cento weiterhin ein (in dieser Gegend verbreitetes) tausendjähriges System der landwirtschaftlichen Nutzung, das bis heute besteht. Nach der Urbarmachung der sumpfigen Gebiete um Cento (im centesischen Wappen zeugt heute noch ein Flusskrebs von dieser Vergangenheit) wurde ein Rotationsprinzip eingeführt, bei dem das Land alle zwanzig Jahre unter den städtischen Urfamilien neu verteilt wird.
Wirtschaftlich bedeutsam ist in Cento aber auch die Industrie. Aus Cento stammt Ferruccio Lamborghini, der hier in Cento ein bedeutendes Traktorunternehmen gegründet hatte. Weltweit bekannt wurde der Unternehmer aber erst, als er nach einem Disput mit Enzo Ferrari, in Sant'Agata Bolognese, nicht weit von Cento entfernt, eine Sportwagenfirma erschuf.
Nachfolgend noch ein paar Bilder aus Cento, die ich im Mai 2011 gemacht habe.

Piazza Guercino – das Zentrum von Cento
Corso Guercino – die Hauptstraße von Cento
Am Corso liegt auch Casa Pannini aus dem 15. Jahrhundert - und gleich nebenan mein Wohnhaus (an dessen Seite sieht man oben mein Küchenfenster)

Erdbeben

Vielleicht sollte ich zum besseren Verständnis etwas weiter ausholen. Das weite Teile Italiens erdbebengefährdet sind, ist seit langem bekannt und es kommt auch immer wieder zu heftigeren Erdbeben, die viele Opfer und hohe Schäden anrichten. Die letzten verheerenden Erdbeben gab es 1976 im Friaul (nordöstlich von Venedig, nicht weit von Kärnten und Slowenien) mit fast 1.000 Toten, 1980 in Irpinia (östlich von Neapel) mit fast 3.000 Toten und 2009 im Abbruzzo (östlich von Rom) mit über 300 Toten. Dazwischen gab es immer wieder kleinere Erdbeben, bei denen die Opferzahl „nur“ zweistellig war. So wie jetzt hier in der Emilia.
Bis vor einigen Jahren galt die Poebene und damit auch die Emilia als nicht gefährdet. Dass Erdbeben vorkommen können, ist, ist eine relativ junge Erkenntnis, die im Großen und Ganzen nur unter Experten verbreitet war. Hinzu kommt, dass das Risiko als sehr gering eingestuft worden ist. Und selbst das schwere Erdbeben, dass 1570 Ferrara heimgesucht hatte, ist fast komplett in Vergessenheit geraten. Bezeichnenderweise existierte bis vor einigen Tagen in der italienischen Wikipedia kein Artikel dazu. Lediglich in der englischen Wikipedia gibt es dazu einen ausführlichen Artikel, anscheinend haben im englischen Sprachraum einige Leute die historischen Quellen besser ausgewertet als hier in Italien. Die Geschichtswissenschaft ist offenbar doch nicht so nutzlos, wie viele Menschen denken und hätte in dem Fall vielleicht ein paar Leben retten können, wenn man das Risiko besser eingeschätzt hätte.

Sonntag, 17. Juli 2011
Das erste Erdbeben meines Lebens habe ich an jenem Sonntag abends um halb neun erlebt. Es hatte eine Stärke von 4,7 auf der Richterskala. Das Epizentrum war etwa 30km nördlich von Cento direkt unter dem Fluss Po.
Ein ziemlich komisches Gefühl. Zu dem Zeitpunkt war ich in meiner Wohnung im 4. Stock. Natürlich spürt man die Erdstöße umso stärker, je höher man sich befindet. Es war ein Vibrieren, ein leichtes Zittern, dass einige Sekunden anhielt. Besonders erschrocken war ich nicht, eher fasziniert. Es war ja nicht besonders stark und ich dachte ja, dass ich in einem ungefährdeten Gebiet wohnen würde. Merkwürdig fand ich allerdings, dass sich das Epizentrum mitten in der Poebene befand. Ich war eher davon ausgegangen, dass man hier in Cento höchstens die entfernten Auswirkungen eines Erdbebens in den Bergen des Apennin spüren könnte.

Sonntag, 20. Mai 2012, 1:13 Uhr
Fast ein Jahr später zitterte wieder das Haus. Bereits nach ca. einer Viertelstunde war die Internetseite des zuständiges italienischen Instituts aktualisiert (http://cnt.rm.ingv.it/) und gab alle Daten bekannt: Stärke 4,1, Epizentrum in ca. 15km Entfernung in Finale Emilia, einer Nachbargemeinde nördlich von Cento. Naja, anschließend scherzte ich noch mit einer Freundin aus der Nähe von Cento, ob wir jetzt regelmäßig alle paar Monate kurz von so einem „Erdbeben“ getroffen werden würden. Kurz gelacht und ab ins Bett.

Sonntag, 20. Mai 2012, 4:03 Uhr
Etwa eineinhalb Stunden später wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Ein enormer Lärm. Jetzt war es kein leichtes Zittern mehr: das ganze Haus wackelte und machte dabei angsteinflößende Geräusche. Es war, als ob ein ICE durch mein Schlafzimmer fuhr. Dass es sich um ein Erdbeben handelte, ein starkes noch dazu, war mir sofort klar. Was ich tun sollte hingegen nicht. Ich saß wie paralysiert auf meinem sich hin und her bewegenden Bett und wartete, dass es aufhörte. Nach zwanzig sehr langen Sekunden war es vorbei. Jetzt hörte man nur noch zig Alarmanlagen von Autos und Geschäften, aber nach und nach gingen die auch aus. Ich stand auf, machte das Licht an, sah in der Küche einen Topf, der nicht mehr auf dem Herd stand, sondern auf dem Fußboden lag und in der Dusche die Shampoos, die heruntergefallen waren.
Nichts dramatisches also. Das Erdbeben schien zwar heftig gewesen zu sein, aber da ich ja in einer ungefährdeten Zone war, meinte ich, dass es in Wirklichkeit nicht so stark gewesen sein kann. Erst später begriff ich die Ausmaße: Stärke 6,0 auf der Richterskala. Also Licht aus und weiter schlafen, ich hatte schließlich später eine Verabredung zum Mittagessen und wollte dann ausgeschlafen haben. Aber es ging weiter: 4:06 Uhr ein Erdbeben der Stärke 4,8. Eine Minute später 5,1. Um 4:11 Uhr und um 4:12 Uhr jeweils 4,3. Im Hausflur hörte ich die Nachbarn rumoren und machte auch meine Wohnungstür auf. Wir beschlossen schließlich, zur Sicherheit erst einmal das Haus zu verlassen. Wir wussten ja nicht, wie es weiter ging. Schnell zog ich ein paar Sachen über und schnappte mir die wichtigsten Dinge: Portemonnaie, Handy, Wohnungs- und Autoschlüssel, Zigaretten und Feuerzeug. Normalerweise hält bei meinem Gelegenheitsrauchen eine Packung im Schnitt einen Monat vor. An diesem Sonntag rauchte ich eine gerade angefangene Packung in wenigen Stunden fast leer...

Cento war mit dem Schrecken davongekommen. Lediglich einige Ziegelsteine, wie hier neben meinem Hauseingang, oder Deckenverkleidungen, wie neben Goethes Tafel, waren heruntergefallen.

Bis nach 11 Uhr war ich mit meinen Nachbarn draußen. Dort war bereits das volle Leben. Und innerhalb kürzester Zeit waren alle Kräfte im Einsatz: Feuerwehr, Polizei, Carabinieri und der Zivilschutz. Über das Handy konnte ich nun die ersten Meldungen im Internet lesen, wo von Einstürzen und Toten berichtet worden ist. Gegen 8 Uhr fuhr ich mit dem Auto einige Straßen in der näheren Umgebung ab und sah es nun mit eigenen Augen. Dieses Erdbeben war heftig. Die Wohnhäuser hatten den Stößen zwar weitgehend standgehalten, aber ich sah nun in nur wenigen Kilometern von Cento zerstörte Fabrikhallen, Kirchen und schließlich das Rathaus von Sant'Agostino, keine 10km von Cento.
Das Rathaus von Sant'Agostino wenige Stunden nach dem ersten Erdbeben. Was man auf dem Foto nicht sieht: das ganze Gebäude ist schief. Einige Stunden später stürzten bei einem der vielen Nachbeben weitere Teile der Außenwand ein. Aus dem inneren konnte die Feuerwehr mittels Kran einige Tage später einen wertvollen Kronleuchter bergen.
Nachdem ich mich nach 11 Uhr wieder in die Wohnung getraut hatte, versuchte ich anschließend etwas zu schlafen, die Verabredung zum Mittag hatte sich erledigt. Nach einigen Telefonaten schlief ich wohl so gegen 13 Uhr ein. Die vielen leichten Stöße, die den ganzen Tag über anhielten, nahm ich höchstens am Rande wahr. Aber um 15:18 Uhr wurde es wieder heftiger: 5,1, wieder hellwach und wieder runter auf die Straße. Nach einige Stunden und Zigaretten ging es wieder zurück in die Häuser. Es war ja nichts passiert. Um 19:37 Uhr gab mir ein Stoß von 4,5 den Rest. Diese Nacht würde ich nicht ruhig schlafen können. Ich packte einige Sachen, fuhr mit dem Auto zum Firmenparkplatz und habe die Nacht dann im Auto verbracht.
Die folgenden Tage hielten die Nachbeben zwar an, aber, wie alle anderen, lernte ich, damit zu leben und schon die Nacht von Montag auf Dienstag verbrachte ich in meinem Bett im vierten Stockwerk. Praktisch täglich wackelte es einige Male, aber was sollte schon sein. Das Haus hatte gehalten, es hatte nicht die geringsten Schäden davon getragen.

Dienstag, 29. Mai 2012, 9:00 Uhr
An diesem Morgen saß ich Büro und telefonierte gerade mit meinem Chef. Es fing ganz leicht an, wie eines dieser unzähligen Nachbeben. Mitten im Gespräch hielt ich inne und sagte nur „Oh Cazzo!“ (Oh Scheiße!). Die Antwort vom anderen Ende der Leitung kam prompt: „Erdbeben!“ - „Ja, und jetzt wird es heftig!“ Ich versuchte, aus dem Büro zu fliehen, dazu musste ich durch unseren Showroom, wo jedoch bereits einige Ausstellungstücke hin und her schwankten, sich Teile der Deckenverkleidung lösten und sogar einige Ziegelsteine hinab fielen. Also blieb ich erst einmal im Büro, schaute nur nach oben und zu den Schränken, um ausweichen zu können. Es löste sich noch ein Panel aus der Trennwand und fiel auf einen der Schreibtische. Dann war Ruhe. Nun hörte man nur noch Schreckensschreie aus den Nachbarbüros. Ich konnte endlich raus und draußen versicherten wir uns gegenseitig, dass alles okay war. Eine der Lagerhallen in unserem kleinen Gewerbegebiet hatte zentimetertiefe Risse und gilt seitdem als einsturzgefährdet. Ein weiteres Beben könnte ihr den Rest geben.

Es sieht schlimmer aus, als es ist: unser Büro nach dem Erdbeben.
Anschließend fuhr ich mit dem Fahrrad nach Hause. Dort traf ich bereits auf meine Nachbarn, die vollkommen geschockt vor dem Haus standen und von Verwüstungen und Rissen in den Wohnungen sprachen. Passiert war ihnen aber nichts. Nach einiger Zeit fuhr ich zurück zum Büro, wo zwischenzeitlich mein Chef eingetroffen war. Die Fahrt mit dem Fahrrad durch das Stadtzentrum fühlte sich an wie im Film. Überall lagen herabgefallene Steine herum, Leute irrten umher, Uniformierte sprachen in Funkgeräte, Sirenen heulten ohne Unterlass.

Diese Stelle fotografierte ich mit dem Handy auf dem Rückweg zum Büro. Die Spitze einer Kirche fiel hier auf die Kreuzung. Wie ich später erfuhr, wurde an dieser Stelle eine Radfahrerin von den Steinen getroffen. Sie lag noch einige Tage im Koma, bis sie starb.
Aus dem Büro evakuierten wir dann einige technische Gerätschaften und inspizierten die Wände, die nur wenige oberflächliche Risse aufwiesen.
Im Büro dabei hatte ich meine Sporttasche mit Schwimmsachen, da ich in der Mittagspause schwimmen gehen wollte. Die Schwimmsachen packte ich nun in mein Auto, das ich immer am Büro parke. Mit der leeren Sporttasche fuhr ich zurück zu meiner Wohnung. Ich wollte einige Sachen packen und dann verschwinden. T. aus Savona bot mir an, einige Tage zu ihm zu kommen, bis sich die Lage beruhigen würde.
Schon für die Fahrt zurück mit dem Fahrrad musste ich Umwege in Kauf nehmen, da bereits einige Straßen gesperrt wurden. An meiner Straße angekommen, sah ich, dass jetzt auch meine Straße dazu gehörte. Der Zivilschutz hatte in der Zwischenzeit die komplette Altstadt evakuiert und ließ keinen mehr rein. Zuerst bestanden die Absperrungen nur aus rot-weißen Bändern, gegen 14 Uhr wurden schließlich Zäune aufgestellt.
Ich fuhr schließlich mit dem Fahrrad zurück zum Büro. Nach Rücksprache mit meinem Chef schnappte ich den Firmenlaptop, einige Unterlagen, ließ das Fahrrad dort und setzte sich mit ins Auto. Ziel war Savona. In 300km Entfernung war ich vor Erdstößen sicher. Am Abend in Savona angekommen, ging ich noch in ein Einkaufszentrum und kaufte mir Zahnbürste und ein paar Wechselklamotten. Ich war praktisch vorübergehend obdachlos. Am Mittwoch hatte ich bei T. mein provisorisches Büro eingerichtet und war einsatzbereit.

Samstag, 2. Juni 2012
Nach vier Tagen fuhr ich wieder nach Cento zurück. Meine Nachbarn bestätigten mir telefonisch die Angaben von der offiziellen Internetseite Centos, dass unser Teil des Corso wieder zugänglich war und die gesperrte Zone verkleinert wurde. Fachleute hatten unser Wohnhaus und die Wohnungen meiner Nachbarn begutachtet und das Haus für sicher erklärt. Das Haus hätte bisher den Stößen standgehalten, die Struktur sei intakt und das Haus würde auch weitere Stöße verkraften. Die Risse hier und da seien nur oberflächlich und eher ein ästhetisches Problem. Nach den Beschreibungen über das Chaos, das meine Nachbarn in ihren Wohnungen vorfanden, war ich auf das Schlimmste gefasst. Vor meinem inneren Auge sah ich umgestürzte Kleiderschränke, zerstörtes Geschirr und vieles mehr. So schlimm war es aber nicht, als ich die Wohnungstür öffnete.

Der schwarze Lautsprecher stand eigentlich auf dem Küchenschrank, hat den Sturz aber überlebt. Der Fernseher hingegen ist hin. Das bayerische Bierglas mit den Fahnen stand zwar bedrohlich nah an der Kante, blieb dort aber stehen und hinderte noch ein Thermometer am Absturz.
Es hätte schlimmer kommen können. Was man auf dem Foto schlecht erkennt, ist, dass die ganze Küchenzeile um ca. drei cm von der Wand absteht. Außer dem Fernseher habe ich keine weiteren Schäden zu beklagen.

Gerüchte und Verschwörungstheorien
Erschreckend an solchen Ereignissen ist, wie schnell in der Stadt Gerüchte die Runde machen. Nach dem zweiten Beben berichteten mir meine Nachbarn von drei Toten allein in Cento (das einzige Opfer starb erst eine Woche später), vom eingestürzten Theater (an dem ich zwei Minuten vorher mit dem Fahrrad vorbeigefahren war) und von der eingestürzten Schwimmhalle (die ich einige Minuten später ebenfalls von außen intakt vorfand).
Außerdem sind nicht wenige Menschen hier überzeugt, dass das Erdbeben viel stärker als angegeben war. Grundlage für diese Überzeugung ist ein Gesetz, nachdem der italienische Staat Erdbebenschäden komplett ersetzen muss, die bei Erdstößen einer Stärke von mindestens 6,0 auftreten. Das erste Erdbeben vom 20. Mai wurde anfangs auch erst mit 5,9 angegeben und erst nach neueren Berechnungen später auf 6,0 korrigiert. Das zweite Erdbeben haben alle in Cento als stärker empfunden, obwohl es nach den Angaben theoretisch schwächer war (Stärke 5,8 statt 6,0; Epizentrum einige km weiter entfernt; Hypozentrum in größerer Tiefe: 10 statt 6km; Dauer nur 10 Sekunden statt 20). Tatsächlich aber hat Cento im zweiten Erdbeben starke Schäden erlitten und im ersten nicht. Mein Fernseher hatte das erste Beben überstanden.
Daher gehen viele Menschen hier davon aus, dass die Regierung lügt, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Allerdings müsste der Arm der italienischen Regierung schon sehr weit reichen. Auch die deutschen (GFZ Potsdam!) und amerikanischen Institute bestätigen die 5,8 des zweiten Bebens. Der Unterschied liegt in der Charakteristik des Bebens. Das erste Beben hatte nur vertikale Stöße zur Folge, das zweite allerdings sowohl vertikale Stöße als auch horizontale Bewegungen. Die Verschwörungstheoriker werden aber nicht allein damit widerlegt, sondern durch ihre eigene Maßlosigkeit. Sie meinen, das zweite Beben hätte eine Stärke von 7,3 gehabt. Dann stünde in der weitgehend unvorbereiteten Emilia aber wahrscheinlich kein Stein mehr auf dem anderen.

Folgen
Die Folgen der Beben werden die Region auf Jahre begleiten. In allen von den betroffenen Gebieten gibt es Zeltstädte, weil viele Wohnhäuser als unsicher eingestuft worden sind oder vom Einsturz anderer Gebäude bedroht sind. Ungefähr 15.000 Menschen sind obdachlos. Von einem Moment auf den anderen. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie ein wenige Sekunden langer Moment das Leben eines ganzen Landstrichs auf den Kopf stellt.
In Cento selbst sind noch immer weite Teile der Innenstadt gesperrt. Mein Arbeitsweg mit dem Fahrrad hat sich verlängert und besteht aus einem Slalom zwischen den Absperrungen. Hinweisschilder bitten um das langsame Befahren (!) der Arkadengänge, verbieten es aber nicht. Die Gemeindeverwaltung wurde ausgelagert, die Piazza ist nur durch einen schmalen Korridor passierbar. Die Schäden sind erheblich und Cento liegt nur am Rand des betroffenen Gebietes. Ausgerechnet während der Krise verschärft sich noch die wirtschaftliche Lage.

Die Piazza Guercino mit dem Palazzo del governo – zwei der Zinnen sind beim Erdbeben abgestürzt, die anderen wurden abgebaut und stehen nummeriert vor dem Gebäude.
Die Pinacoteca, in der sich viele Werke des Guercino befinden, ist teilweise einsturzgefährdet, die Werke wurden in Sicherheit gebracht. Einige Risse sind auch von außen zu sehen.
Die Kirche von Buonacompra (Dorf im Gebiet der Gemeinde Cento).
Wirtschaft
Während das erste Beben in der Nacht zugeschlagen hatte, schien das zweite Erdbeben genau auf den Beginn des Arbeitstages zu warten. Und damit hatte das zweite Beben deutlich mehr Opfer gefordert als das erste (20 statt 7). Aber nicht nur viele Menschen fielen den einstürzenden Fabrikhallen zum Opfer. Für viele Unternehmen bedeutet das Beben den Ruin. Und damit werden in der Gegend viele Arbeitsplätze wegfallen. Andere Unternehmen erwägen ernsthaft, ihre Standorte anderswo neu aufzubauen. Und wenn man schon dabei ist, warum nicht gleich im Ausland...
Der Staat ist in dieser Situation, wie so oft, keine große Hilfe. Zwar stellt er Gelder zur Verfügung, um mit der Notfallsituation umgehen zu können, er setzt auch einige Steuern aus (ich werde die nächsten Monate etwas mehr netto vom brutto haben), er gibt sich etwas großzügiger bei Sozialleistungen und wird wohl den Wiederaufbau finanzieren. Aber auf der anderen Seite wurde beispielsweise ein Dekret erlassen, dass den Unternehmen mit sofortiger Wirkung die alleinige Verantwortung für die Erdbebensicherheit der Gebäude überträgt. Was bis gestern baugenehmigt war, ist jetzt nicht mehr gültig. Sollte wieder etwas passieren, ist der Sicherheitsbeauftragte der Firmen straf- und zivilrechtlich verantwortlich für die Sicherheit der Mitarbeiter. Er kann allerdings einen Erdbebenexperten zu Rate ziehen, der selbst die strafrechtliche Verantwortung übernimmt und die Sicherheit der alten Gebäude nach den neuen Normen zertifiziert. Und den wird er nicht finden. Da die Regierung auch keine Übergangsfrist vorsieht, stehen damit viele Sicherheitsbeauftragte, die meist auch nur Angestellte sind, mit einem Bein im Knast. Wie gehen sie damit um? Sie ignorieren kurzfristig das Risiko und lassen die Firma weiterarbeiten. Oder sie zwingen die Angestellten dazu, auf eigenes Risiko weiterzuarbeiten und lassen sich das unterschreiben. Dann laufen aber die Gewerkschaften Sturm. Oder sie lassen die Firma zusperren und machen damit sich selbst und die Mitarbeiter arbeitslos.
Mein Nachbar beispielsweise arbeitet für eine Modekette, deren Filiale in Cento seit dem zweiten Beben geschlossen ist. Die Firmenzentrale weigert sich, das Risiko einzugehen und versetzt ihn jetzt erst einmal vorläufig in eine andere Stadt (ca. 300km südöstlich).
Ausgedacht hat sich diese einseitige Verantwortungszuweisung der Präsident des Zivilschutzes. Dazu sagte er, dass er wüsste, was er machen würde, wenn er zwischen der Rettung von Menschenleben und der Rettung des Spread (des Abstandes zwischen deutschen und italienischen Zinsen der Staatsverschuldung) wählen würde. Ich finde, er macht es sich damit etwas zu einfach.
Sollte mir also bei einem weiteren Beben etwas passieren, dann ist mein Chef dran. Das wissen wir beide und hoffen, dass es nicht dazu kommen wird. Alternativ, wenn ihm das Risiko zu hoch ist, könnte er unser Büro schließen. Habe ich daran ein Interesse?

Der Corso, wo ich wohne, ist derzeit für den Autoverkehr komplett, für alle anderen teilweise gesperrt, am Beginn der Straße machen die Geschäfte auf sich aufmerksam, die offen sind.
Trostlos ist momentan auch die Situation für die Ladeninhaber in der Altstadt. Meine Straße hat durch die Absperrungen in der Innenstadt ihre Rolle als Stadtzentrum verloren. Selbst für Fußgänger und Radfahrer ist der Corso teilweise eine Sackgasse. Die Umsätze gehen dramatisch zurück, der wöchentliche Markt findet seit einiger Zeit nicht mehr statt und wird umziehen. Viele Läden sind geschlossen und damit verschärft sich die Situation für die anderen noch mehr. Auch der fehlende Autoverkehr kostet Umsatz und viele Menschen trauen sich aus Angst sowieso nicht mehr in die Altstadt.
Die für die lokale Wirtschaft so wichtigen Feste wurden erst einmal gestrichen. Der Settembre centese, ein wochenlanges Volksfest, wird nicht stattfinden. Ob nächstes Jahr der Karneval gefeiert werden kann, der Gäste von weither anlockte, ist derzeit eher unwahrscheinlich.

Nachbeben
Wahrscheinlich kann man es sich nicht vorstellen, was es vor Ort bedeutet, wenn man in den Medien von Nachbeben erfährt. Dazu gebe ich Euch mal folgende Grafiken des INGV, dem italienischen Institut, das Erdbeben analysiert.

Die Grafik zeigt die täglichen Beben seit Beginn der Erdbebenserie bis 16. Juni, 15:31 Uhr. Links die Anzahl der täglichen Beben, rechts die Gesamtzahl der Beben, unten die Tage. Oben sind mit den Farben die Stärken der Beben erklärt.
Und hier die Karte des Erdbebengebietes. Die kleinen Kreise sind Beben bis Stärke 3,0, die mittleren bis 4,0, die großen bis 5,0. Die Sterne sind die Beben stärker als 5,0. Je nach Entfernung spürt man die Beben ab etwa 3,0-3,5. Cento habe ich mit einem roten Viereck markiert.
Zusammengefasst gab es bis gestern Nachmittag bisher 7 Beben stärker al 5,0, 27 Beben zwischen 4,0 und 5,0 und 177 Beben zwischen 3,0 und 4,0. Und es geht munter weiter. Manche Erdbeben spürt man förmlich ankommen. Es gibt so ein leichtes Dröhnen, das der Bebenwelle vorauseilt. Dann kann man sich daraus einstellen, das es in 2-3 Sekunden wieder kurz wacklig wird. Kurz innegehalten und wieder ist der Ruck überstanden. Daraus entwickelt sich bei vielen Menschen, mich eingeschlossen, schon eine Paranoia. Man spürt Stöße, die nicht da sind, neulich bin ich zusammengefahren, als jemand sein Motorrad angelassen hat. Selbst die paar Tage, die ich im vollkommen ruhigen Savona war, meinte ich einige Stöße vernommen zu haben.
Das Erdbeben von 1570, das jetzt so eifrig analysiert wird, ähnelt in seiner Charakteristik übrigens stark den aktuellen Vorgängen. Auch damals war es nicht ein Beben, sondern eine Erdbebenserie. Sie hielt vier Jahre lang an. Das Gröbste war damals aber schon nach sechs Monaten überstanden.

Wir haben schon mal einen Monat hinter uns.

Saluti